Hachschara als Lebenswelt junger Juden während des Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit

Der zionistische Terminus Hachschara (Hebräisch: Aufstieg) bedeutete in den Lebenswelten jüdischer Deutscher der 1930er Jahre bis zu dem Zeitpunkt ihrer Auswanderung oder Flucht eine vielfach erzwungene neue Biografie und den Beginn einer beruflichen Neuorientierung.

„So wollen wir leben – wie wir gesprochen haben“. Sommerlager der zionistischen Jugend auf der Hachschara Gut Bannacker bei Augburg. (Repro: nurinst-archiv)

Andere zeitgenössische Begriffe wie Berufsumschichtung oder Berufsvorlehre waren gleichbedeutend mit einem Leben und Arbeiten in jüdischen Auswandererlehrgütern (Hachscharazentren), Lehrwerkstätten oder in einem Beth Chaluz. Die leitenden Akteure der Hachschara waren zumeist deutsche Zionisten, tätig für den Dachverband zionistischer Jugendorganisationen Hechaluz. Sie kooperierten mit Protagonisten der weithin bekannten und durch die Forschung dokumentierten Auswanderungsbemühungen jüdischer Organisationen, um Juden in Deutschland zu unterstützen und ab etwa 1935 auch die Emigration von Jüdinnen und Juden zu fördern. Zu diesen vorbereitenden Initiativen zählte auch die Jugendalija. Viele Leiter der Einrichtungen, aktiv in Jugendbünden wie dem Habonim oder Makkabi Hazair, entschieden in Absprachen mit Entscheidungsträgern aus dem deutschen Hechaluz, wer auf die retrospektiv lebensrettenden Listen für die Einwanderung nach Erez Israel aufgenommen wurde.

Die Methoden der Hachschara umfassten eine Schulung nicht nur in praktischen Tätigkeiten, die dem Aufbau eines jüdischen Staates dienen sollten, sondern es sollte während der Hachschara auch eine Transformation der gesamten Persönlichkeit stattfinden; durch das Erlernen des Hebräischen und einer geistig-ideologische Schulung, sollte der zionistische Gemeinschaftsgedankens der künftige Siedler gestärkt werden. Die Reichsvertretung der deutschen Juden unterstützte die jüdische Bevölkerung unter NS-Herrschaft in ihren Auswanderungsplänen. In deutschlandweiten Ausbildungseinrichtungen wurde ein systematisches Netzwerk beruflicher Qualifizierungsstätten aufgebaut. Orte wie in Berlin-Niederschönhausen, Gut Winkel oder das Landwerk Neuendorf öffneten als Umschulungseinrichtungen und dienten der Beschäftigung schulentlassener Jugendlicher oder, wie Neuendorf, waren als Ort der Beschäftigung arbeitsloser Juden errichtet worden und wurden schließlich, in den 1940er Jahren, NS-Zwangsarbeitslager.

Vorbereitung auf Palästina: Zionistische Jugendliche üben in den bayerischen Wäldern den Brunnenbau (um 1935). (Repro: nurinst-archiv)

Jenseits der jeweiligen ideologischen Ausrichtung war entscheidend: Erst durch die Anerkennung durch den Hechaluz als Hachschara war festgelegt, dass die Ausbildung, Schulung oder ähnliche berufsqualifizierende Initiativen der Immigration nach Erez Israel diente und ein Einwanderungszertifikat für die Alija erteilt wurde.

Die auch als Reichsvereingungslager bezeichneten waren ein wichtiges Instrument der NS-Vertreibungsstrategie. Ziel dieser Strategie war es – wie aus einem Memorandum des Sicherheitsdienstes der SS an Reinhard Heydrich hervorgeht – die „restlose Auswanderung“ der Juden, u. a. mithilfe der Eliminierung ihrer „Lebensmöglichkeiten“. Die Reichsvertretung bzw. Reichsvereinigung (ab 1939) baute sukzessive ein transeuropäisches Hilfsnetzwerk auf und baute Lehrgüter und Ausbildungshöfe in ganz Europa auf. So zum Beispiel bis Kriegsbeginn in Schweden oder Dänemark, Litauen oder Jugoslawien, in den Slowakei oder in den Niederlanden.

Viele Ausbildungsstätten wie der „Kibbuz Buchenwald“, die „Israelitische Gartenbauschule Ahlem“ in Hannover, aber auch andere Orte existierten vor, während und nach der NS-Zeit. Denn nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus reorganisierten die Shoa-Überlebenden die Tradition der Hachschara-Bewegung. Die für die Ausbildung benötigten Bauernhöfe wurden durch die alliierten Militärbehörden beschlagnahmt. Oft handelte es sich dabei um Anwesen, deren Eigentümer aktive und organisierte Nationalsozialisten waren. Allein in der US-Besatzungszone sind rund 40 Hachscharot-Kibbuzim nachweisbar.

Ziel des mehrjährigen Forschungsprojektes ist es, die transnationalen, von Deutschland ausgehenden Netzwerke der jüdischen Selbsthilfe zu erforschen und hierbei nicht den Blick auf die pragmatischen Alltagsentscheidungen von Jüdinnen und Juden zu verlieren. Aus diesem Grund wird ein multiperspektivischer Forschungsansatz gewählt, der den Blickwinkel des NS-Regimes, die Aktivitäten deutsch-jüdischer sowie zionistischer Organisationen sowie die Innenperspektive berücksichtigt. Letztere spiegelt ihre Sichtweise und Erfahrungswelt wider, die spätestens nach den Pogromen ab November 1938 Flüchtlinge aus der Heimat wurden, die in unbekannter Zahl schließlich zu den Mord- und Vernichtungsstätten deportiert wurden oder die Erschießungen zum Opfer fielen.