Erich und Kitty Sinai

Erich und Kitty Sinai
Erich und Kitty Sinai, Weidling 2006 (Foto: Peter Roggenthin)

Erich lebt mit seiner Frau Kitty im Weindorf Weidling bei Klosterneuburg.  Natürlich gibt es dort auch die urigen Heurigen-Lokale, in die uns die Sinais nach den Interviews mit kundigem Blick ausführen.

Erich Sinai wurde 1917 im 21. Bezirk geboren. Sein Vater stellte Etiketten für Anzüge her. Die Familie war nicht sehr religiös, hielt aber wie so viele assimilierte Juden alle Feiertage wie Chanukka oder Pessach ein. Erich sang in der Synagoge im Kinderchor. Er besuchte auch den Religionsunterricht. Die jüdische Herkunft war für den Heranwachsenden wichtig, da er dadurch bei der Hakoah aktiv sein konnte. In Wien spielte er zunächst in der 1. Liga Handball, später stieg seine Mannschaft in die 2. Liga ab. Da auch die wirtschaftliche Lage damals sehr schlecht war, verdiente Erich als Handballspieler sehr wenig, nicht vergleichbar mit dem heutigen Verdienst eines Spitzensportlers.

Kitty Sinai, geborene Loewy, wurde 1924 in Wien im 6. Bezirk in der Nähe des Naschmarktes geboren und wuchs später im 4. Bezirk auf. Sie hatte eine sorglose Kindheit. Ihr jüdischer Vater stammte aus Ungarn, kämpfte im Ersten Weltkrieg für die Doppelmonarchie und war Schriftsetzer in einer großen Druckerei. Ihre Mutter war eine Christin aus dem Sudetenland, die noch vor Kittys Geburt zum Judentum konvertiert war und als Geschäftsführerin eines alten Wiener Kaffeehauses arbeitete. Als Kind schockierte Kitty die blutige Niederschlagung des Februaraufstandes 1934, bei dem im 19. und 20. Bezirk von der faschistischen Armee unerbittlich auf Arbeitersiedlungen geschossen wurde. Auch die Wohnung ihres späteren Mannes Erich bekam ein paar Kugeln ab und der Karl-Marx- sowie der Friedrich-Engels-Hof wurden dabei stark beschädigt. Während ihrer behüteten Kindheit bekam sie vom Antisemitismus wenig mit, denn sie war mit einigen weiteren Jüdinnen in einer Klasse und in den ersten Schuljahren sehr beliebt. Doch bei Wochenendausflügen mit Tanten und Cousins etwa in den Wienerwald vernahmen sie dann ab 1936 immer häufiger hämische Bemerkungen wie „Ab nach Palästina“. Doch am Tag des „Anschlusses“, am 12. März 1938, kam sie in die Schule und war plötzlich völlig isoliert. Die anderen mieden sie und tuschelten. Dann kam eine Mitschülerin auf sie zu und riet ihr: „Loewy, Du gehst jetzt besser nach Hause.“ Das verletzte sie tief. Drei Wochen später mussten jüdische Schulkinder in separate Schulen gehen und dann war jede Weiterbildung untersagt.

Auch Erich Sinai erinnert sich an dieses traumatische Ereignis: „Als der ‚Anschluss‘ Österreichs exekutiert wurde, saßen wir zu Hause und hörten im Radio plötzlich die Ansprache des Österreichischen Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg. Er verkündete, dass die Deutschen einmarschiert seien, ohne jeglichen Widerstand und dass es auch keinen Sinn mache, Widerstand zu leisten. Als Abschluss sagte er: ‚Gott schütze Österreich!‘ Als wir das hörten, ahnten wir schon, was auf uns zukommen wird. Über Nacht waren überall Hakenkreuz-Fahnen aufgehängt worden und die Polizisten trugen Binden mit Hakenkreuzen über ihrer Uniform. Zu der Zeit arbeitete ich in einer Kleiderfabrik als Schneider. Ich war nach dem ‚Anschluss‘ noch einen Monat weiterbeschäftigt. Dann sagte man mir, ich könne dort nicht mehr arbeiten, denn die Firma werde ‚arisiert‘! Da stand ich auf der Straße. Meine Familie hatte nicht viel Geld, denn mein Vater war bereits 1933 gestorben, also war der Verdiener weg. Deshalb lebten wir von meinem Geld. Ich ging zum Arbeitsamt und beantragte Arbeitslosenunterstützung, die ich dann auch bekam. Als ich das nächste Mal hinlief, sagte man mir, dass man Arbeit für mich hätte. Ich musste zu einem tschechischen Schneider, der mich gleich fragte, wann ich anfangen könnte. Ich sagte ihm, dass er mir nicht böse sein solle, aber ich wollte nicht da bleiben und so schnell wie möglich einen Pass haben. Ich bat ihn, er sollte mir in das Formular schreiben, dass er keine Juden beschäftige. Damit ging ich wieder zum Beamten, der mich fragte, wieso ich nicht gleich gesagt hätte, dass ich ein Jude bin. Ich bekniete den Beamten: ‚Geben sie mir für vier Wochen die Arbeitslosenunterstützung und ich bin weg‘. In diesen Vorschlag willigte er ein.“

Für die gut 200.000 Juden in Wien gab es ein einziges Passamt, weshalb es sehr schwierig war, einen Pass zu bekommen. Erich Sinai stand hierfür zwei Tage und zwei Nächte Schlange. Als er den Pass endlich hatte, erfuhr Sinai, dass eine Einreise nach Lettland ohne Visum möglich war. Da packte er über Nacht seinen Koffer. Erich Sinai durfte nur einen lächerlich geringen Geldbetrag mitnehmen. So gut wie mittellos fuhr er nach Riga. Dort arbeitete er wieder als Schneider. Bis zu seiner Pension stand er mit diesem Beruf immer in Verbindung. „Man sagte früher schon, als Schneider findet man immer Arbeit – das ist heute noch so!“ Als die UdSSR ins Baltikum einmarschierte, war Erich in Riga. Er arbeitete bei der Marine als Schneider und verdiente gut. Dann näherten sich die Deutschen Riga und die Russen verurteilten ihn zu Zwangsarbeit im Osten, wie es mit vielen deutschen Staatsbürgern geschah. Diejenigen, die nicht weggebracht wurden, kamen beim Einmarsch der Deutschen um.

Kitty Sinais Vater versuchte währenddessen verzweifelt und vergebens, Pässe für eine Ausreise zu bekommen. Dann wollte er dreimal illegal in die Schweiz emigrieren, wurde aber jedes Mal von den Grenztruppen erwischt. Ab dem November 1938 wurde es auch für Kitty prekär: „Ich wurde als ‚jüdischer Mischling‘ nach den Rassegesetzen zur Zwangsarbeit eingeteilt. Zuerst war ich Landwirtschaftshilfe in der deutschen Hansestadt Stendal, dann Arbeiterin in einer Kautabakfabrik im thüringischen Nordhausen. Ich musste die Tabakblätter in eine scharfe Flüssigkeit einlegen, bevor sie gerollt wurden. Ohne Schutzhandschuhe löste sich da oft die Haut von den Händen. Ich selbst hab’ das Zeug nicht gekaut, das war für Seeleute bestimmt. Wir lebten in einem Lager und marschierten in einem geschlossenen Zug zur Arbeit. Hierbei wurden wir häufig von der Zivilbevölkerung angepöbelt. Einmal lief ich in der ersten Reihe, da hielt mir ein Mann die Faust vors Gesicht und schrie: ‚Wegen euch Geschmeiß ist mein Sohn gefallen‘. Die Leute glaubten also, dass die Juden verantwortlich für den Weltkrieg seien. Meine Mutter überlebte als ‚Arierin‘, mein Vater versteckt in einem kleinen Kämmerchen im 2. Bezirk.“

Erich Sinai war unterdessen drei Monate lang in einem Viehwaggon nach Sibirien unterwegs. „In Russland standen wir oft mehrere Tage auf den Stationen, da keine Lokomotiven zur Verfügung standen. Man durfte nicht raus, der Zug war abgeschlossen und hatte nur ein winziges Fenster. Die hygienischen Verhältnisse waren unvorstellbar. Wie wir alle überlebt haben, weiß ich nicht! Es waren Leute dabei, die haben in diesen drei Monaten 20 Kilogramm abgenommen! Im Juli sind wir weggefahren und im September erreichten wir Novosibirsk. Dort kamen wir in ein Lager, in einer sehr schönen Gegend mit einem herrlichen Klima am Wald. Es war kein Arbeitslager. Ich habe mir eine eigene Baracke gebaut und eine Schneiderei eingerichtet und nähte Kleidung für die Russen. Wir bekamen drei Mal am Tag ausreichend Essen, darunter viele Mahlzeiten wie Nudeln und sonst wie aus Mehl. Außerdem hat man uns in Ruhe gelassen. In Sibirien waren wir fast nur Juden mit deutschem Ausweis. Nach einem Jahr reisten wir wieder im Viehwaggon zwei Monate lang nach Kasachstan. Hier wartete dann ein Arbeitslager, in dem mehrere Nationen wie Polen, Spanier, Deutsche und andere untergebracht waren. Wir mussten dort Baracken für uns bauen. In Kasachstan waren ungefähr 1.000 Leute im Lager und hier gab es nur noch Gemüsesuppen zu essen. Der Umschwung in der Ernährung hat dazu geführt, dass die Leute Wasser in den Beinen bekamen. 300 Leute sind krank geworden und ins Spital gekommen, genauso wie ich. Das Lager lag bei Karaganda in 1.000 Metern Höhe. Dort haben wir auf dem Feld gearbeitet. Einmal wurde gefragt, ob sich jemand mit Pferden auskennen würde und ich meldete mich, da ich raus wollte, obwohl ich nichts von Pferden verstand. Dann sollte ich die Pferde einspannen, wovon ich keine Ahnung hatte, also sagte ich, dass man bei uns in Wien anderes Zaumzeug hätte. Der Beamte zeigte mir daraufhin alles und das Fahren des Wagens war kein Problem. Ein Problem war aber folgendes: Am Mittag war ich mit dem Gespann ins Lager zum Essen gekommen. Dort standen 100 Pferde, und wie sollte ich meine Pferde, wenn ich wieder hinauskam, erkennen? Für mich sah noch jedes Pferd gleich aus. Also habe ich hinten in den Schweif einen Knoten gemacht, um sie zu unterscheiden. Nach dem Essen sah ich aber zehn Pferde mit einem Knoten hinten! Meine Mitarbeiter grinsten alle feist. Ich arbeitete fünf Jahre mit ihnen und den Pferden und kam sehr viel in Kasachstan herum. Kasachstan ist sechs Mal so groß wie Deutschland und hatte damals zwei Millionen Einwohner. Als ich mich gemeldet hatte, bedachte ich nicht, dass man auch im Winter fahren musste. In Kasachstan herrscht von Mai bis Oktober Hitze, ungefähr 35 Grad, im Winter jedoch hatten wir minus 35 Grad Kälte und Schnee. Wenn es schneite, waren unsere Baracken eingeschneit und wir mussten uns herausschaufeln. Bei Schneestürmen hat man nichts mehr gesehen, wir mussten jedoch trotzdem fahren. Ich habe fünf Jahre nur Gemüse transportiert.“

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Café Neubau, das Vereinslokal der Hakoah in Wien, 1945, Kitty Sinai 4. v. l. (Foto/Repro: Sinai/nurinst-archiv)

„Ab 1945 trudelten ehemalige Mitglieder der Hakoah, die geflohen waren oder die KZs überlebt hatten, aus allen möglichen Ländern wieder in Wien ein“, erinnert sich Kitty Sinai. „Treffpunkt war das vom Hakoah-Nachkriegspräsidenten Isaak Blumenfeld geführte Café Neubau im 7. Bezirk. Der Auschwitz-Überlebende Erich Feingold gründete sofort wieder eine Schwimm-Sektion. Auch andere Abteilungen wie Fußball, Handball, Leichtathletik oder Tischtennis wurden wieder aufgebaut. Und es gelang uns, die vereinseigene Hütte auf dem Semmering wieder zurückzubekommen. Sie diente zur Erholung nach Jahren der Haft, Zwangsarbeit, Flucht und Illegalität. Die Hakoah war den oft ohne Angehörige dastehenden Überlebenden zur Ersatzfamilie geworden. Auf der Hütte lernte ich auch meinen späteren Mann Erich kennen. Er war dort der beste Volleyballer, was mir natürlich imponierte.“

Seine Ankunft in Wien nach Kriegsende 1947 wird Erich Sinai nie vergessen. Die Kriegsgefangenen wurden freudig und mit Pomp empfangen – die etwa 300 Juden dagegen kamen in einem kleinen Bahnhof außerhalb Wien an, damit man sie ja nicht bemerkte. Erich Sinai bekamen 100 Schilling von der Regierung, die allerdings nach zwei Jahren zurückverlangt wurden. Da die Wohnung, in der er früher gewohnt hatte, besetzt war, musste Erich drei Monate lang genau in dem Männerasyl unterkommen, in dem auch Hitler eine Zeit lang hauste. Er arbeitete dann in einer Fabrik, die unter russischer Verwaltung stand und stellte Handschuhe und Jacken für das Militär her. Erich Sinai erkundigte sich sofort, ob die Hakoah noch bestand. Damals umfasste die Hakoah etwa 60 Mitglieder.

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Hakoah-Handballmannschaft (Erich Sinai 3. v. l.) bei der Makkabiade 1953 (Foto/Repro: Sinai/nurinst-archiv)

Erich spielte wieder Handball und  wurde 1958 gefragt, ob er nicht Präsident der Hakoah werden wollte. Er willigte ein und behielt diesen Posten bis 1987. Seitdem ist er Ehrenvorsitzender. Heute umfasst Hakoah Wien 200 Mitglieder. Als Erich Sinai die Hakoah führte, setzte er durch, dass auch Nicht-Juden beitreten konnten, solange sie sich dort wohlfühlten. Auch heute starten für die Hakoah nichtjüdische Schwimmer. Er spielte auch im Ausland Handball, zum Beispiel in Israel. Nach dem Krieg wurde 1950 im noch jungen Staat die 3. Makkabiade durchgeführt. Es kamen etwa 3.000 Sportler und Sportlerinnen aus aller Welt zusammen. Diese Makkabiade wie die folgende im Jahr 1953 waren Erich Sinais schönste Sporterlebnisse.

„Die Österreicher hielten sich fast alle für Nazi-Opfer, keineswegs für Täter, obwohl sie beim Holocaust zuvorderst mitgemischt hatten. Die pure Existenz von uns Juden erinnerte sie an diese unschöne Vergangenheit und nährte die Angst, die nur zu vielen Arisierungsgewinnler müssten etwas zurückgeben. Wenn ein Antrag gestellt wurde, ein enteignetes Haus zurückzubekommen hieß es gleich: ‚Der Jud will halt schnell reich werden‘. Außerdem kursierten die wildesten Gerüchte, z. B. dass Juden keine Steuern bezahlen müssten. Ich leitete dann eine ziemlich erfolgreiche Textil-Fabrik. Mein Onkel lebte in Amerika und er riet mir zu versuchen, seine arisierte Firma zurückzubekommen. Die Fabrik hatte aber hohe Schulden und die musste ich bezahlen, um sie zu übernehmen. Ich ging also zur Bank und sagte, dass ich die Schulden zurückzahlen könnte, wenn ich ein Startkapital bekäme. Ich bekam das Geld! So führte ich seine Firma weiter, die Herrenanzüge herstellte. Zeitweise hatten wir über 100 Mitarbeiter.“

Interview und Text: Peter Zinke