Zur Entstehungsgeschichte der Bibliotheken in den jüdischen Displaced Persons (DP) Camps

Bibliothek
Holocaust-Überlebende in einer DP-Bibliothek (Foto: Yad Vashem)

„Nachdem ihre Bibliotheken zerstört, ihre Bücher verbrannt und ihre Schriftsteller vernichtet wurden, ist der Hunger nach Lesestoff unter den Bewohnern der DP-Camps gewaltig, sie lechzen förmlich nach Literatur.“ Mit diesen eindrücklichen Worten beschrieb ein Mitarbeiter der amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisation American Jewish Joint Distribution Committee – kurz Joint genannt – die Sehnsucht der überlebenden Juden nach Büchern. Da das Judentum auf Texten basiert, ist das „Volk des Buches“ seinen Schriften und Bibliotheken bis auf den heutigen Tag eng verbunden. Sogar während der Shoa hatte das geschriebene Wort eine wichtige Funktion: „Lesen war nicht nur Betäubung und Wirklichkeitsflucht, sondern auch eine geistige Disziplin, ein Versuch, die Gewohnheiten einer zivilisierten Existenz beizubehalten“, erklärte die Historikerin Lucy S. Dawidowicz das Festhalten der Todgeweihten an der vertrauten Kultur. Solange es den Juden möglich war, mit dem Buch zu leben, triumphierte der menschliche Geist über die nationalsozialistische Barbarei.

Obwohl in den Ghettos wie etwa in Warschau, Wilna und Theresienstadt und sogar im Vernichtungslager Auschwitz geheime Bibliotheken entstanden waren, hatten viele Juden während der Zeit der Verfolgung kaum Zugang zur Literatur. Deswegen begannen die Shoa-Überlebenden unmittelbar nach der Niederschlagung des NS-Regimes mit dem Aufbau von eigenen Bibliotheken in den jüdischen Displaced Persons (DP) Camps. „Fünf Jahre lang hatte ich keine Bücher in Händen, und als ich vor wenigen Monaten wieder zu lesen begann, tanzten die Buchstaben vor meinen Augen, und ich konnte nicht mehr als zwei Zeilen lesen“, berichtete ein Camp-Bewohner. Im DP-Lager Landsberg eröffnete im Januar 1946 eine der ersten jüdischen Leihbüchereien – mit rund 900 Bänden, die von verschiedenen Organisationen gespendet worden waren. Bereits im Juni 1945 hatte die Emigrantenzeitung AUFBAU um „Bücher für die Juden in Europa“ gebeten. „Von Gemeinden, Chaplains und unseren Mitarbeitern in Europa erhalten wir Telegramme, in denen sie dringend um Hilfe bitten“, schrieb das Blatt. Die Menschen verlangen nicht nur nach „Brot und Kleidung, sondern auch nach Büchern“. Daraufhin gründeten sich in vielen amerikanischen Gemeinden rasch Komitees, die Lesestoff sammelten. Auch Verleger und Buchhändler stellten sich in den Dienst der Sache, sodass bald tausende von Bänden gespendet wurden. Doch es dauerte Monate, bis diese in Europa eintrafen; oft entsprachen sie zudem nicht den Vorstellungen und Bedürfnissen der DPs. Der Wunsch nach geeigneter jüdischer Literatur, insbesondere Bücher in hebräischer oder jiddischer Sprache, blieb weitgehend unerfüllt. Erst eine Initiative des Advisor on Jewish Affairs to the American Command in Germany brachte den Durchbruch. Simon Rifkind, der dieses Amt von November 1945 bis Mai 1946 innehatte, regte an, sofort 20.000 Schriften aus dem Offenbach Archival Depot (OAD) an die DP-Camps auszuliefern.

Das OAD war ein Aufbewahrungsort für sichergestelltes sogenanntes NS-Raubgut. Zwischen 1933 und 1945 waren die jüdischen Bibliotheken und Archive in ganz Europa geplündert worden; diese Publikationen wurden etwa dem „Institut zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt“, dem „Lehrstuhl für jüdische Geschichte und Sprache an der Reichsuniversität in Posen“ oder der „Stürmer-Bibliothek“ des NSDAP Gauleiters von Franken, Julius Streicher, einverleibt. Nach dem Krieg lagerte die US-Militärregierung das aufgefundene Material zentral im OAD ein, um es anschließend zu restituieren. Die meisten der rund Millionen Bücher konnten zurückgegeben werden, nur bei einigen hunderttausend Bänden waren die rechtmäßigen Eigentümer nicht festzustellen – darunter befanden sich jüdische Nachschlagewerke, Wörterbücher, Klassiker der jiddischen und hebräischen Literatur, rabbinische Werke, sowie Romane in deutscher, englischer oder französischer Sprache. Bis Anfang Juni 1946 wurden aus diesem Bestand 15.400 Bücher an die jüdischen DPs ausgeliefert. Das Lager Belsen erhielt 3.000, die Einrichtungen in Landsberg, Feldafing und Zeilsheim zwischen 1.100 und 1.200 Bände, andere Camps wie etwa in Fürth, Bamberg, Stuttgart oder München-Freimann lediglich 600 bis 700 Exemplare.

Trotz aller Bemühungen konnte der Hunger nach Literatur bei weitem nicht gestillt werden. „Wie wir regelmäßig berichten, ist keine Änderung hinsichtlich des Bedarfs an Büchern festzustellen. Die Anzahl der erhaltenen Bände fällt kaum ins Gewicht“, klagte ein AJDC-Mitarbeiter im Herbst 1946. Auch wenn weitere 4.000 bis 5.000 Bücher aus dem OAD an die DP-Lager abgegeben wurden, konnte die Nachfrage nicht annähernd befriedigt werden, wie etwa einem Hilferuf im AUFBAU zu entnehmen ist: „Die Landsberger Bibliothek braucht Bücher und zwar in deutscher und jiddischer Sprache. Besonders gesucht sind: Thomas und Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, Jakob Wassermann. Stefan Zweig, Max Brod usw.“ Auch das Kulturamt beim Zentralkomitee der befreiten Juden regierte: Etwa 5.000 Bände, die zum Teil im eigens dafür gegründeten Verlag gedruckt worden waren, wurden an die Lager verteilt.

Weitere Lektüre erhielten die DPs vom AJDC, wobei aber auch andere jüdische Organisationen, wie etwa der „World Jewish Congress“, das „Jewish Labor Committee“, sowie das „YIVO-Institute“ Bücher stifteten, sodass letztlich in jedem Camp zumindest eine kleine Bibliothek existierte. Knapp war der Lesestoff jedoch immer, da noch im März 1948, zu dieser Zeit war die Gründung des Staates Israels zum Greifen nahe und die jüdischen Unterkünfte leerten sich merklich, erneut 5.000 Bücher aus dem OAD an die jüdischen DPs ausgeliefert werden sollten. Die befriedigende Ausstattung der Lagerbibliotheken blieb bis zur Schließung der Unterkünfte ein wichtiges Anliegen aller jüdischen Institutionen. Was nach Auflösung der Camps mit den Büchern geschah, ist nur zu vermuten. Offensichtlich wurden die Schriften sowohl nach Israel verbracht, wie auch durch die Jewish Cultural Reconstruction Agency an verschiedene Institute und Bibliotheken in den USA übergeben.

Der Aufsatz Volk des Buches bewahre deine Bücher! – Bibliotheken in den jüdischen Displaced Persons (DP) Camps nach 1945 gibt einen ersten Einblick in ein bislang kaum bekanntes Kapitel der Nachkriegsgeschichte und ist in Regine Dehnel (Hg.), NS-Raubgut in Bibliotheken, ISBN 978-3-465-03588-6 (Seiten 163-174) in 2008 erschienen.

Ein Überblicksaufsatz mit dem Titel Wir brauchen dringend Bücher aller Art über das bis heute kaum erforschte Thema ist in unserem Institutsjahrbuch nurinst 2010 nachzulesen.