Herbert Schrott

Herbert Schrott
Herbert Schrott, Wien 2006 (Foto: Peter Roggenthin)

wohnt in der Nähe des Wiener Franz Joseph-Bahnhofs und ist ein belesener Mann. Intensiv hat er sich mit dem Antisemitismus auseinandergesetzt. Der Unterschied zwischen Deutschland und Österreich sei, dass dieser in ersterem Land nicht gesellschaftsfähig ist, während er im Letzteren von Politikern bewusst eingesetzt werde, ohne dass jemand zurücktreten müsse. Der Anteil von Antisemiten in der Bevölkerung dürfte nach Ansicht Herbert Schrotts dagegen in beiden Nachbarländern gleich sein.

Herbert Schrott wurde 1926 geboren wuchs im achten Bezirk auf. Sein Vater war Angestellter bei einer Metallwarenfabrik und seine Mutter arbeitete im Haushalt. Herbert Schrotts Eltern waren Juden, aber nicht besonders religiös. Die Familie beging alle hohen jüdischen Festtage und besuchte die Synagoge. Aber sie hielt sich nicht an die koscheren Speisegesetze. Der zionistischen Bewegung stand die Familie Schrott näher. Deshalb war Herbert frühzeitig aktiv in der Jugendalija, der Auswanderungsbewegung nach Palästina. Er absolvierte auch die Hachschara, das sind Vorbereitungskurse für die Landarbeit in Palästina. 1938 wurde dem Vater gekündigt. Bevor er zur Zwangsarbeit gezwungen wurde, verdingte er sich als Hilfsarbeiter. Herberts Familie wollte auswandern und hatte sogar schon ein amerikanisches Visum und die Schiffskarten. Doch im Mai 1940 griff Hitler Holland und Belgien an und dadurch war die Holland-Amerika-Linie blockiert. Somit musste die Familie Schrott in Wien bleiben. Herbert arbeitete dann ein Jahr als Hilfsarbeiter in einem Magazin bei der deutschen Wehrmacht. Dadurch erhoffte er sich, einer Deportation zu entgehen.

„In Wien war und ist der gesellschaftliche Antisemitismus sehr stark und ich bin das erste Mal in der Volksschule damit konfrontiert worden. Wir wurden gehänselt, mit Sätzen wie: ‚Jud, Jud, spuck in Hut! Sag der Mama das ist gut!‘ Dann wehrte man sich natürlich und kam mit einer blutigen Nase nach Hause. 90 Prozent der Wiener waren Katholiken und der Katholizismus war sehr stark antisemitisch angehaucht. In der Schule erzählte der Religionslehrer den Kindern, dass die Juden den Heiland ermordet hätten. Am nächsten Morgen sagte dann mein Sitznachbar zu mir: ‚Ihr habt den Heiland ermordet!‘ und ich wusste nicht, von wem er redet, ich kannte den Heiland gar nicht, das war für mich einfach kein Begriff. Die Lehrer waren dennoch mehr oder weniger neutral. Der Religionslehrer war nicht unbedingt Antisemit, es war einfach seine Meinung, dass Juden die Gottesmörder waren. Außerhalb der Schule gab es zum Beispiel im zweiten Bezirk, wo sehr viele Juden lebten, starken Antisemitismus. Ich sah nicht jüdisch aus, da ich blond war, mit lockigem Haar und auch keinen jiddischen Dialekt sprach. Ich persönlich spürte den Antisemitismus nicht stark, aber natürlich waren andere Religiösere dem mehr ausgesetzt. Ich hatte meine Freunde vor allem im siebten und achten Bezirk, Juden wie auch Christen.“

In den Jahren vor 1938 war Herbert oft mit seinen Eltern im Caféhaus, weil sich dort das gesellschaftliche Leben Wiens abspielte. Ab 1935 kamen viele deutsche jüdische Emigranten und erzählten, wie sie in Deutschland verfolgt wurden, dass sie im KZ waren und was sie alles erlebt hatten. Sie waren in Wien auf der Durchreise in ein Auswanderungsland und Herberts Vater sammelte Geld, um den Leuten ein wenig zu helfen. Dennoch sagte er immer, dass die Leute alles übertreiben würden, um unterstützt zu werden. Auch noch unter Hitler beschönigten viele Wiener Juden die dramatische Lage, alles sei halb so schlimm und man käme höchstens in ein Arbeitslager. Als Herbert schließlich mit 16 Jahren nach Theresienstadt kam, hörte er immer noch, wie die Erwachsenen sagten: „Was glaubst du? Man kann doch nicht 10.000 Menschen umbringen!“

„Und als dann immer wieder Transporte von Theresienstadt weiter in den Osten gegangen sind, redete ich mir weiterhin ein, dass es nicht so arg werden würde! Als ich dann selbst von Theresienstadt auf Transport gegangen bin und wir schon Richtung Osten gefahren sind, redete ich mir das immer wieder ein! Dann kamen wir auf die Rampe und bekamen gesagt: ‚Einmal links und einmal rechts!‘ und wir dachten immer noch nichts Schlimmes.

Irgendwie ist es in der menschlichen Seele verankert, dass man die Wahrheit einfach nicht wahrnimmt, sondern versucht, diese Wahrheit zu verharmlosen, zu verbessern und zu verschönern, um es sich selbst nicht einzugestehen, dass es vielleicht tödlich sein kann. Man hat sich einfach nicht vorstellen können, dass 10.000 Menschen umgebracht werden könnten. So habe ich das Ganze wahrgenommen!

Theresienstadt war ein Vorzeigelager. ‚Der Führer schenkt den Juden eine Stadt‘, so hieß damals ein Nazi-Propagandafilm. So erzählte man sich das zumindest im Lager. Es wurden dort sogar Fußballturniere durchgeführt, an denen ich mich ab und zu beteiligte. Es gab sogar eine eigene Liga mit Punktspielen, Schiedsrichtern und Zeugwart. Wenn man jung und gesund war, konnte man das schaffen. Wenn man alt und krank war, nicht! Ich arbeitete zwei Jahre lang in der Jugendtischlerei, andere übten einen anderen handwerklichen Beruf aus oder waren sozial tätig, wie im Krankenhaus oder der Pflegestation. Nach einem Jahr kam mein Vater zum Küchendienst, was Fressen bedeutete – und wo Fressen war, konnte man partizipieren. Wenn Besuch vom Roten Kreuz kam, hat sich Theresienstadt in ein potemkinsches Dorf verwandelt. Die Fassaden wurden rosa und hellblau bemalt, auf dem Hauptplatz spielte ein Orchester und die Leute gingen spazieren. Man errichtete ein Caféhaus, wo die Leute saßen und Kaffee tranken, es gab Ghetto-Geld, auf dem ‚Bank der jüdischen Selbstverwaltung‘ stand. Mit dem konnte man sich Karten für eine Theater- oder Musikaufführung besorgen. Man bekam auch bessere Kleidung, die man uns jedoch anschließend wieder wegnahm.“

Nach zwei Jahren Theresienstadt wurde Herbert mit 15.000 anderen Personen in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deponiert. Herbert fiel gleich der riesige Schlot auf, aus dem ständig Rauch aufstieg. „Das könnte dein Vater sein“, meinte daraufhin ein Mitglied des Empfangskomitees zynisch. Als die KZ-Verwaltung sich dort nach Tischlern, Schustern und Schlossern erkundigte, riet Herbert sein ebenfalls deportierter Vater, er solle sich keinesfalls melden, um dort nicht hängenzubleiben. Nach einer Woche wurden sie zu ihrem Glück tatsächlich nach Deutschland transportiert. Sie wurden nach Landsberg-Kaufering verfrachtet und dort hieß es wieder, Tischler, Schlosser und Elektriker sollten sich melden. Herberts Vater riet diesmal, die Hand zu heben. So landete Herbert bei der Kisten- und Kofferproduktion.

„Es war im Februar 1944, als ich einen Posten um Erlaubnis bitten musste auf die Toilette zu dürfen. Er sagte dann in österreichischem Dialekt zu mir: ‚Komm mal her!‘ Er fragte mich, woher ich käme und ich antwortete: ‚Aus Wien‘. Er war ebenfalls von dort und flüsterte mir zu, dass er mir am nächsten Tag ein Stück Brot hinlegen würde! Tatsächlich lag dann ein in Papier eingewickeltes Stück Brot da. Das machte er noch zwei Mal, bis er irgendwo anders eingeteilt war. Ich erzähle das deshalb, weil ein Lager-Kollege einmal bei einer großen Kundgebung vor dem Rathaus in Wien sagte: ‚Nicht alle SS-ler kann man pauschal verurteilen. Es hat auch menschliche und andere gegeben, die anders gedacht haben.‘ Ich bin stattdessen folgender Meinung: Wenn ein SS-Mann im Februar 45 bereit war, jemandem so eine Wohltat zu tun, dann doch nicht, um anderen heldenmütig zu helfen, sondern um sich eine gewisse Hintertür, eine Lebensversicherung, zu schaffen. Eine Kollegin von mir, die jetzt in New York lebt, erlebte so etwas ähnliches und wurde dann als Entlastungszeugin zu einem der Dachauer Prozesse eingeladen.“

Ein gutes Jahr später wurden alle zwölf Lager im Wald geräumt und Herbert wurde mit den anderen Häftlingen unter Bewachung auf einen Todesmarsch in Richtung Tirol geschickt, weil die Front näherrückte. Es war sehr kalt und nachts legten sie sich im Wald schlafen; am Tag torkelten sie weiter. Diejenigen, die nicht mehr konnten, blieben einfach am Wegesrand liegen und wurden erschossen. Nach fünf oder sechs Tagen kam die Häftlingsgruppe zu einer Scheune, und Herbert legte sich ins weiche Heu, wo er wie alle anderen auf der Stelle einschlief. Als er aufwachte, war er allein. Man hatte ihn offenbar vergessen. Doch er hörte einen Wortwechsel auf Englisch. Er schaute nach draußen, wo ein Jeep und ein paar Amerikaner standen. Er rief nach ihnen und sie kamen gleich, um zu helfen. Zwei Wochen später fuhr er alleine Richtung Wien, um seine Mutter zu finden. Sein Vater war in Landsberg gestorben. Herbert übernachtete in verschiedenen Städten, bis er auf eine amerikanische Sanitätseinheit stieß. Deren Offizier war auch Jude. Herbert erzählte ihm, dass er gerade aus einem KZ kam. Daraufhin versorgte der Militär ihn mit Kleidung und Nahrungsmittel. Er brachte den Holocaust-Überlebenden mit dem Jeep nach Salzburg. Dort erfuhr Herbert, dass seine Mutter noch lebte.

Herbert Schrott war 1938 nur kurz in der Schwimmsektion des Hakoah Wien. 1945 ging er wieder dorthin, da er in diesem Verein die Gesellschaft anderer Jüdinnen und Juden fand. Denn er kannte nach Jahren der Abwesenheit kaum mehr Menschen. Außerdem arbeitete er in der Nähe des Margaretenbades im 5. Bezirk bei einem Lebensmittelgroßhändler. Als Lohn wurde kein Geld, sondern Lebensmittel wie Mehl, Öl, Zucker oder Gries ausbezahlt. Nach Dienstschluss ging Herbert Schrott Schwimmen oder fuhr zur Hakoah-Hütte am Semmering, wo zum Beispiel Silvester gefeiert wurde. Als Herberts Tochter sechs Jahre alt wurde, schickte er sie zum Schwimmen zur Hakoah und so blieb er auch weiterhin mit diesem Sportverein verbunden. Sogar heute noch geht er mindestens zwei Mal in der Woche zum Schwimmen und Tischtennisspielen zur Hakoah.

„Im Sommer 1946 spielte Hakoah auswärts, auf dem Platz des Wiener Athletiker Club (WAC), einer berühmten Vorkriegsmannschaft. Es war kein großer Platz, die Tribüne hatte vielleicht fünf oder sechs Etagen, also nicht zu vergleichen mit dem Bayern-Stadion. Es sind höchstens 5.000 Leute reingegangen. Schon zu Beginn wurden Rufe wie ‚Saujud‘, ‚erschlagt ihn‘ oder Ähnliches skandiert. Dann wurde es schlimmer: ‚Die sind durch den Rost gefallen‘, ‚die hat man vergessen zu vergasen‘, ‚die gehören vergast‘, riefen die Zuschauer den Hakoah-Spielern zu. Unter uns Hakoah-Fans befand sich auch eine Gruppe von jüdischen Displaced Persons aus Polen und der Ukraine. Jedenfalls konnten die russisch. Einer scheint die Nummer der russischen Militärpolizei dabeigehabt zu haben und rief diese an, da der WAC-Platz in der russischen Zone lag. Jedenfalls kam kurz darauf ein Jeep mit Militärpolizei mit diesen roten Binden und den Russenhemden. Die machten nicht viel Federlesen, sondern packten die zwei, drei Hauptschreier und verfrachteten sie in den Jeep. Ab dann war es mucksmäuschenstill. Es sind ja immer nur zwei, drei, welche die anderen aufhetzen. Ich war natürlich aufs Äußerste entsetzt, dass ich solche grauenhaften antisemitischen Sprüche auch nach dem Krieg wieder hören musste, aber dann doch erleichtert, dass es eine Instanz gab, die interveniert hat.“

Interview und Text: Peter Zinke