Das Displaced Persons Lager Zeilsheim

Eine selbstverwaltete jüdische Enklave in Frankfurt a. M. 1945–48

9783938286425
141 Seiten, 29 Abb. s/w
22 x 14 cm, Pb.
incl. 1 DVD, 2011
ISBN 978-3-938286-42-5
ANTOGO Verlag

Nachdem die alliierten Armeen Deutschland im Mai 1945 vom Nationalsozialismus befreit hatten, lebten hier nur noch wenige jüdische Menschen. Für sie wurden im Sommer 1945 in den westlichen Besatzungszonen sogenannte Displaced Persons Camps aufgebaut (Einen Überblick über alle DP-Camps und Communities in der US-Zone gibt das Internetlexikon www.after-the-shoah.org). Durch den Zuzug tausender osteuropäischer Juden, die vor Pogromen in ihren Heimatländern nach Westen flohen, mussten weitere Auffanglager errichtet werden. Diese Flüchtlinge hatten sich bei Kriegsbeginn vor den nationalsozialistischen Mördern nach Russland retten können, hatten bei den Partisanen gekämpft oder anderweitig im Untergrund überlebt. Weil die US-Militärregierung den Juden aufgrund ihres besonderen Verfolgungsschicksals eine weitgehende politische und kulturelle Autonomie einräumte, siedelten sich von den in Westdeutschland registrierten 184.000 Juden über 80 Prozent in der amerikanischen Zone an. In den Camps und neu gegründeten Jewish Communities entwickelte sich, mitten im Land der Täter, eine demokratisch verfasste, unabhängige jüdische Gesellschaft, mit eigenen Wohngebieten, Schulen, Ausbildungsstätten, Kultureinrichtungen, politischen Parteien und Sportvereinen.

Entrance
Der Eingang zum DP-Camp Zeilsheim (Foto: Beth Lochame Haghetaot)

Auch im Frankfurter Ortsteil Zeilsheim lebten zwischen 1945 und 1948 durchschnittlich weit über 3.000 jüdische Displaced Persons (DPs). Bereits im August 1945 waren die ersten befreiten KZ-Häftlinge in einfache, ehemalige Zwangsarbeiter-Baracken der Farbwerke Hoechst einquartiert worden. Judah Nadich, US-Militärkaplan und „Special Consultant on Jewish Problems“ besuchte kurz nach Eröffnung dieses erste Notlager. „Ich wurde darüber informiert, dass etwa 150 polnische Juden dort untergebracht waren. Acht Tage später, bei meinem zweiten Besuch waren es schon 250 Juden, davon 80 Prozent aus Polen, der Rest Litauer und Ungarn“, notierte der von US-Präsident Harry S. Truman ernannte Berater. Weitere Unterkünfte wurden dringend benötigt.

Jüdische DPs demonstrieren in der Frankfurter Innenstadt für die Auswanderung nach Palästina. (Foto: Beth Lochame Haghetaot)
Jüdische DPs demonstrieren in der Frankfurter Innenstadt für die Auswanderung nach Palästina. (Foto: Beth Lochame Haghetaot)

Nur wenige Monate später beschlagnahmte die Besatzungsmacht eine angrenzende Werkssiedlung mit über 200 Häusern. Damit gehörte das Camp zu den besseren in Deutschland, wie Rabbiner Nadich berichtete: „Das Erscheinungsbild der Häuser war freundlich. In den Ziegelbaracken konnten pro Raum sechs bis sieben Menschen einquartiert werden. Mit der raschen Zunahme der Bewohner verschlechterte sich allerdings der Wohnkomfort. Die Einrichtung bestand aus Betten mit Matratzen und Decken, einfachen Spinden und einigen Tischen und Stühlen.“

In der rund dreijährigen Existenz kam es im DP-Camp Zeilsheim zu einer Wiedergeburt des osteuropäischen Judentums: Es entstand eine Synagoge, eine Jeschiwa, verschiedene allgemeinbildende und berufskundliche Schulen, ein Kindergarten, eine Bibliothek, zwei Sportvereine, ein Kino und ein Theater sowie ein Jazzorchester. Über das soziale und kulturelle Leben im Lager informierte schon ab Dezember 1945 die jiddischsprachige Zeitung Undzer Mut. Nach nur wenigen Nummern wurde dieses Blatt eingestellt und durch die Zeitung Untervegs abgelöst, die nun als Mitteilungsblatt für alle hessischen DPs diente. Der renommierte jüdische Historiker Arno Lustiger, der im Herbst 1945 in Frankfurt gestrandet war, sammelte in der Untervegs-Redaktion seine ersten schriftstellerischen und journalistischen Erfahrungen. Im polnischen Bendzin geboren, hatte Lustiger die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald überlebt.

Das Zeilsheimer Camp war in der jüdischen Selbstverwaltung der Region Hessen-Nassau/Frankfurt organisiert. Das oberste politische Gremium aller fünf Regionalverwaltungen innerhalb der US-Zone, das Zentralkomitee der befreiten Juden, befand sich in München. Hier war auch das „Zentrum für Leibesübungen“ angesiedelt. Mit Sport sollten die an Körper und Psyche verletzten Menschen geheilt werden, wie in einem Aufruf an die jüdische Jugend nachzulesen ist: „Wir haben noch immer die Schrecken des Hungers, der Qualen, des Todes und der Krematorien vor unseren Augen. Darum wollen wir unsere alte Tradition zum neuen Leben erwecken, indem wir durch Sport die Seele zu neuer physischer und moralischer Kraft entwickeln. Wir müssen trachten, unserem Volk gesunde und starke Menschen zu schaffen.“ Dabei spielte neben Leichtathletik, Boxen, Schwimmen oder Turnen der Fußball eine wichtige Rolle.

Fußballer aus dem Camp Zeilsheim (Foto: Privatarchiv S. Hofmann)
Fußballer aus dem Camp Zeilsheim (Foto: Privatarchiv S. Hofmann)

Ab dem Jahr 1946 existierte eine eigene jüdische DP-Fußball-Liga, in der schon bald 81 Mannschaften in acht Ligen um die Meisterschaft kämpften. Zeilsheim war mit dem Verein Hasmonea sowohl in der ersten als auch in der Regional-Liga vertreten. In dieser Gruppe, A-Klasse Rayon Frankfurt genannt, kickte auch die Elf von Hapoel Zeilsheim. Der Erstligist, das Team von Hasmonea, schaffte es im November 1947 sogar bis ins Endspiel um die jüdische Fußballmeisterschaft in der US-Zone. Vor 5.000 begeisterten Zuschauern im Grünwalder Stadion in München verlor Zeilsheim das Finale gegen Ichud Landsberg jedoch deutlich mit 0:3 Toren.

Die facettenreiche und spannende Geschichte der nahezu autonomen jüdischen Enklave Zeilsheim wartete lange Zeit darauf, wissenschaftlich erforscht und dokumentiert zu werden. Dabei konnte auf umfangreiche Archivbestände in amerikanischen und israelischen Archiven zurückgegriffen werden. Zudem leben bzw. lebten noch ehemalige Zeilsheim-Bewohner, die über ihre Erlebnisse und Erinnerungen an dieses vergessene Kapitel der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte berichten konnten.

In Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum Frankfurt wurden vier ehemalige Zeilsheim-Bewohner befragt. Aus dem umfangreichen Filmmaterial entstanden Video-Porträts für die neue Dauerausstellung des Museums.

Das Video-Zeitzeugenprojekt wurde in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Frankfurt sowie dem Fritz Bauer Institut durchgeführt. Gefördert aus Mitteln des Logo Leo Baeck Programm

Das – auch für den Einsatz in der Bildungsarbeit geeignete – Buch von Jim G. Tobias Zeilsheim. Eine jüdische Stadt in Frankfurt mit den Zeitzeugeninterviews (auf DVD) ist 2011 erschienen.

Mit O-Tönen von ehemaligen DPs (u. a. Arno Lustiger) aus unserem Archiv und einem Interview mit Jim G. Tobias produzierte der Hessische Rundfunk 2016 ein Hörfunk-Feature über das jüdische DP- Camp Zeilsheim.

podcast auf hr iNFO zum nachhören

Sendemanuskript auf hr Wissen herunterladen