Das vergessene jüdische Children Center von Rosenheim

3938286318g
40 Seiten, 14 Abb. s/w
22 x 14 cm, Pb., 2006
ISBN 978-3-938286-31-9
ANTOGO Verlag

In der unmittelbaren Nachkriegszeit warteten in Bayern Zehntausende von Juden, die den Holocaust überlebt hatten, auf ihre Auswanderung nach Palästina. Allein im Distrikt München (Oberbayern und Schwaben) registrierten die Behörden im Sommer 1946 rund 33.600 jüdische DPs (Displaced Persons), dt.: verschleppte entwurzelte Menschen, in 27 sogenannten Jewish Centers. Auch in Rosenheim befand sich eine solche Unterkunft. Dieses Camp unterschied sich aber von den anderen Lagern: Hier entstand im September 1946 ein Waisenhaus für jüdische Kinder. Über ein halbes Jahrhundert war dieses Kapitel der Heimatgeschichte in der Öffentlichkeit unbekannt. Dank umfangreicher Materialien, die u. a. in den New Yorker Archiven des YIVO-Institutes sowie des American Joint Distribution Committee archiviert sind, ist es nun möglich einen Blick in die Vergangenheit zu werfen.

Mit dem „Transient Children’s Center Rosenheim“ in der ehemaligen Pionierkaserne, die heute dem Bundesgrenzschutz als Unterkunft dient, entstand ein zentrales Auffanglager für jüdische Kinder und Jugendliche, deren Eltern von den Nazis verschleppt oder ermordet worden waren. Nach der Niederschlagung des NS-Systems offenbarte sich die katastrophale Lage der Kinder: Weit über eine Million wurden während der Naziherrschaft ermordet. Um die wenigen, die den Holocaust überlebt hatten, kümmerten sich zionistische Aktivisten. Die Kinder sollten umgehend nach Palästina gebracht werden, um dort die Keimzelle für den noch im Aufbau befindlichen jüdischen Staat zu bilden. Weil zu dieser Zeit eine offizielle Emigration dorthin allerdings nicht möglich war – die englische Mandatsmacht verwehrte den Juden die Einreise – brachte man die Kinder zunächst auf geheimen Wegen in die DP-Camps der US-Besatzungszone.

Bereits im Sommer 1946 hatte die US-Militärregierung mit konkreten Planungen für ein Kinderlager in Rosenheim begonnen. Zu dieser Zeit gingen sie davon aus, dass im Laufe des Jahres etwa 6.000 „unbegleitete“ jüdische Jungen und Mädchen, vornehmlich aus Osteuropa, in ihre Zone kommen würden. Bei der Suche nach Unterkunftsmöglichkeiten für diesen Personenkreis fiel die Wahl der Amerikaner auf die Pionierkaserne. Drei Blocks sollten als Wohn- und Schlafräume dienen, in einem Gebäude sollten die Küche, Schule und Aufenthaltsräume sowie im fünften Bau die Verwaltung und eine Bäckerei eingerichtet werden.

Anfang September 1946 erreichten die ersten Kinder, die in Gruppen zu jeweils 70 bis 80 Jungen und Mädchen organisiert waren, das neue Lager. Die Kinder unterstanden zionistischen Jugendleitern. Die Gemeinschaft, die bis zur endgültigen Ansiedlung in Palästina zusammenbleiben sollte, übernahm die Rolle des zerstörten Elternhauses, gab den Kindern Halt und Geborgenheit und begeisterte sie für das Kibbuz-Leben.

Zeitweise drängten sich bis zu 2.250 Bewohner in der Pionierkaserne zusammen. Davon waren 1.600 alleinstehende Kinder, 150 Kinder mit ihren Eltern sowie 500 Erwachsene.

Der Aufenthalt der Jungen und Mädchen variierte von einigen Wochen bis hin zu mehreren Monaten. Die Holocaust-Überlebenden nutzten die Wartezeit und bereiteten sich intensiv auf ihr späteres Leben in Palästina vor. Das Heim verfügte über eine eigene Volksschule, in der neben Hebräisch, jüdischer Geschichte, Mathematik auch Englisch auf dem Stundenplan stand. Für die Jugendlichen ab dem 14. Lebensjahr wurden berufskundliche Kurse angeboten, wie etwa, Lehrgänge zum Automechaniker, Schreiner, Werkzeugmacher oder Schneider.

Ihre Freizeit verbrachten die Kinder im eigenen Sportverein, beim Boxen, Tischtennis, Volleyball, Turnen oder auf dem Fußballplatz. Zudem spielte man Schach, probte neue Theaterstücke und fuhr im Winter Schlitten, Ski oder Schlittschuh, wobei ein Teil des Sportgeräts in einer eigenen Werkstatt produziert wurde.

Im Frühling 1947 spielten zahlreiche Buben und Mädchen aus dem Children Center Rosenheim in dem halbdokumentarischen Kinofilm „The Search“ als Statisten mit. Regie führte Fred Zinnemann, der in seinem, an Originalschauplätzen produzierten Streifen, das Schicksal der jugendlichen Zwangsarbeit, überlebender Kinder aus den Konzentrationslagern sowie verschleppter jüdischer Jungen und Mädchen thematisierte. (Siehe auch TV-Feature: In den Ruinen von Nürnberg)

Im April 1947 wurde das Rosenheimer Kinderheim aufgelöst, die letzten jungen Bewohner in die zahlreichen Children Centers innerhalb der US-Zone übersiedelt, wie sie etwa in Aschau, Prien, Bayerisch Gmain, Indersdorf oder Lindenfels nachweisbar sind. Dort träumten sie von ihrer Ausreise ins Land Israel. Etwa 200 Kinder und Jugendliche wollten aber nicht bis zur offiziellen Proklamation des Staates Israel im Mai 1948 warten; ungeduldig versuchten sie bereits vorher illegal nach Palästina zu gelangen.

Die Pionierkaserne beherbergte weiterhin Holocaust-Überlebende; sie verwandelte sich von einem vorübergehenden Zuhause für Kinder in eine allgemeine Unterkunft für jüdische Displaced Persons. Im Mai 1949 wurde das Rosenheimer Lager endgültig geschlossen.

Über das Rosenheimer Children Center ist das Buch von Jim G. Tobias und Nicola Schlichting Heimat auf Zeit – Jüdische Kinder in Rosenheim 1946-47 erschienen.

Das Projekt wurde freundlicherweise von der ERTOMIS-Stiftung, Wuppertal gefördert und von der Kulturstiftung der Stadt Rosenheim sowie der Bundespolizeiabteilung Rosenheim unterstützt. Weiterhin erhielten wir von folgenden Institutionen Spenden: Bündnis 90/Die Grünen, Kreisverband Rosenheim, Wählerinitiative Rosenheim (WIR) e.V. und Bürgerinitiative „Gesicht zeigen“.